Um 9:30 Uhr gehe ich los. Bereits den zweiten Tag habe ich kein Internet, aber die letzte Wettervorhersage sagte für heute ganztägig nur Regen an. Da es bisher NUR nieselt, es keinen Wind gibt und kein Gewitter droht, entscheide ich zu versuchen, den Pic d’Orhy zu besteigen. Es wäre der erste Gipfel meiner Route über 2000 m.

Draussen ist alles nass, ich steige durch Gras und Heidekraut bis zum Grat, wo es zu blasen beginnt und der Nieselregen in Regen übergeht. Macht nichts, sage ich mir, ich werde wenigstens meine Ausrüstung und meine Fähigkeiten testen. Ich laufe über den flachen Vorgipfel, der ein Lieblingsort der Schafe ist – er ist mit ihrer Scheiße bedeckt. ICH LAUFE IN DER SCHEISSE. Danach erreiche ich den felsigen Grat zum Hauptgipfel, wo es zum Glück weniger Scheiße gibt, und konzentriere mich auf den technisch anspruchsvolleren Weg. Es windet stärker und mein Regenmantel gibt mir ständig Ohrfeigen. Es folgt ein kurzer Abstieg um einen Felsen herum, auf einem lehmigen, steinigen Pfad, der nicht mehr mit Gras durchgewachsen ist, wo mir zuerst ein Fuss abrutscht, dann der andere, gefolgt von einem STÜCK DES PFADES. Ich greife nach dem Felsen und beschliesse: Umdrehen, ich gehe zurück. Von hier aus wäre es gefährlich, der Boden ist schon zu aufgeweicht und instabil.

Ich steige wieder ab und es ist noch rutschiger als beim Hinaufgehen. Ein paar Mal rutsche ich aus, aber falle nicht runter. Als ich jedoch den scheissigen Vorgipfel erreiche, rutsche ich, falle und STECKE DABEI BEIDE HÄNDE IN DIE SCHAFSCHEISSE. Jesus Maria FUCK !! Ich wische mir die Hände am Gras ab, um jetzt zusätzlich zu der Scheisse auch noch Schafshaare drauf zu haben. Schnell weg von diesem SCHEISSCHENBERG!
Die Wege haben sich in eine Rutschbahn verwandelt, eine Kamikaze-Rutschbahn, in der eine Mischung aus Wasser, Matsch und Scheiße fließt. Ich laufe auf dem Gras hinunter, zurück zur Schutzhütte.
Für den ganzen Spass habe ich zwei Stunden gebraucht und um 11:30 Uhr mache ich mich wieder auf den Weg, diesmal auf der Schlechtwettervariante. Ich bin schon völlig durchnässt.
Heute herrscht typisches isländisches Wetter: kalt, windig und Regenschauer. Das bedeutet, dass ein eiskalter Wind weht und wenn es nicht regnet, dann nieselt es zumindest. Überall liegt eine Menge Schlamm und Scheiße – verwässerte Schaf-, Pferde- und Kuhscheiße. Ich spüre, wie mir düstere Gedanken in den Kopf kommen. Sollen sie doch machen, was sie wollen. Ich habe noch zwanzig Kilometer im Regen vor mir und habe nicht mehr die Kraft, noch meine Gedanken zu kontrollieren.

Überlegungen
Ich laufe in einem totalen Nebel, kann nicht sehen, wohin ich gehe, und doch gehe ich weiter. Was hat das für einen Sinn? Es ist wie die ewige Suche der Philosophen. Sie suchen nach Antworten auf ihre Fragen, obwohl sie wissen, dass sie sie nie finden werden. Und wenn sie eine Antwort finden, begreifen sie, dass sie sich aufgehalten oder den falschen Weg genommen haben, dass es eine Lüge oder eine unvollständige Wahrheit ist, und sie suchen weiter. Sie gehen weiter durch den Nebel, auch wenn sie nicht wissen, was sie finden werden. Aber das Wichtigste ist, dass sie weitergehen. Genauso gehe ich auch weiter, der Regenmantel schlägt mir ins Gesicht und das Wasser, das von meiner Kapuze tropft, verdirbt mir den UNAUSBLICK. Ich weiß nicht, was ich finden werde, oder ob der Nebel jemals verschwinden wird. Aber ich gehe, und das ist genug für den Moment.

Ich erinnere mich an «Fünf Freunde» von Enid Blyton, eine Serie von Abenteuerbüchern für Kinder. Ich habe sie alle gelesen, meine Freundin Andrejka hatte sie alle zu Hause und hat sie mir immer ausgeliehen. Eine Gruppe von Freunden zieht los, um Abenteuer zusammen zu erleben, und hat immer viele, durch ihre Eltern sorgfältig zubereitete Sandwiches dabei. Ich will diese Freunde hier haben, und ICH WILL DIE SANDWICHES !! Es regnet, ES REGNET und meine HÄNDE FANGEN AN ZU FRIEREN.
Kürzlich schrieb eine mir nahestehende Person in einer Diskussion, dass sie ihre Probleme mit niemandem teilt, sie behält sie für sich, denn sie interessieren doch niemanden. Leider mache ich es manchmal auch, vor allem wenn ich gestresst bin oder mit Problemen, mit denen ich nicht gut umgehen kann. Aber das ist SO FALSCH! Haben wir denn so geringe Erwartungen an unsere Liebsten und glauben, dass sie uns nur dann lieben werden, wenn wir glücklich und fröhlich sind? Perfekt und problemlos? Und von uns selbst erwarten wir also, dass wir alle Probleme SELBST LÖSEN KÖNNEN? Oder dass alles irgendwie magisch verschwindet, wenn wir nicht darüber reden? Wenn wir unsere Probleme, Ängste und Unsicherheiten nicht mit unseren Liebsten teilen, schaffen wir DISTANZ. Nicht Nähe, sondern Einsamkeit und Distanz !! Ich ERWARTE von meinen Liebsten, dass sie mir von ihren Problemen erzählen. Und genauso BRAUCHEN sie es, dass ich ihnen meine erzähle. Sonst werden wir uns NIE NAHE SEIN.
Meine Gedanken machen mich wütend. Ich schreie sie an, schreie die Schafe an und ihre Scheisse, in der ich schon wieder laufe. Mir wird richtig kalt und es macht mir keinen Spass mehr. Ich schreie.
Ich denke an ein grosses weisses Bett, eine warme Bettdecke und an Sex. Sex mit irgendjemandem, vor allem müssen aber Berührungen der nackten Haut dabei sein, Schweiss, Nähe und Wärme. Ich denke an den anderen nackten Körper, der neben mir liegt. Ein grosser männlicher Arm, der mich umarmt. Anstelle der kalten, nassen Jacke, die jetzt unangenehm an mir klebt. Wir haben auch die Sandwiches dabei und eine grosse Tasse schwachen Kaffee mit Milch und Zucker oder Honig. Ich habe den Geruch des Kaffees in der Nase, zusammen mit unserem Schweiss, der nicht so schlimm riecht wie meiner heute. Ich kann einen Schluck vom Kaffee nehmen, wenn es mir kalt wird.


Ich sehe eine Hütte. Der Nebel löst sich für eine Minute auf und gibt wie eine Erscheinung den Blick auf meine heutige Unterkunft frei. ICH BIN ANGEKOMMEN! Ich gehe hinunter zum Refugio und mir ist nicht mehr kalt. Ich ziehe meine nassen Kleider aus und denke an den Kaffee, an die Sandwiches und an den grossen Arm eines Mannes, der mich nicht umarmt.
Abri Tharta – Ardane Gaïnekoa / 19,1 km / +1030 m / -1173 m