Heute achte ich nicht einmal darauf, um welche Zeit wir losgehen – es ist mir egal. Wir starten alle zusammen, nach einer Weile lasse ich aber die Jungs im Voraus gehen.
Ich finde es interessant, dass beide Jungs Regenröcke tragen, ich dafür eine Regenhose. Könnte es sein, dass wir zumindest in den Bergen mit dem Patriarchat Schluss machen? :)

Ab und zu schaue ich auf das Handy, um zu sehen, ob ich schon Empfang habe. Ich möchte die aktuelle Wettervorhersage laden. Nach etwa einer halben Stunde habe ich endlich ein Strichchen und die Seite wird geladen. Es soll heute nicht mehr regnen! Ich freue mich kurz darüber, bis ich realisiere, dass es ganz egal ist, weil es sowieso schon nieselt.
Wobei es stimmt, der grosse Regen kommt heute nicht mehr. Es weht aber ein eiskalter Wind und die Pfade sind so voll mit flüssigem, rutschigem Schlamm, dass es unmöglich ist, darin zu gehen. Ich laufe den ganzen Tag über Grasbüschel, die sich in alle Richtungen neigen und furchtbar instabil sind. Das macht keinen Spass.

Das Gute daran ist, dass der grösste Teil der heutigen Strecke entlang des markierten GR12 verläuft, so dass ich nicht jede fünf Minuten auf die Karte schauen muss und einfach von Markierung zu Markierung gehen kann. Im Nebel sehe ich immer nur die nächste Markierung und es fühlt sich an wie eine Schatzsuche – ich gehe von einem Hinweis zum nächsten.


Gestern hatte ich total gefrorene Hände, sie wurden erst in der Nacht nach mehreren Stunden im Schlafsack wieder warm. Deshalb ziehe ich heute meine neuen Socken-Handschuhe an, weil ich keine richtigen Handschuhe dabei habe. Aber die neuen improvisierten Handwärmer erfüllen ihre Aufgabe perfekt – meine Hände frieren nicht!
Heute überlege ich mir NICHTS, ich laufe einfach nur weiter. Ich will so schnell wie möglich am Refugio mit Restaurant ankommen. Mein Geist, meine Emotionen und mein Körper sind auf ein einziges Ziel ausgerichtet – REFUGIO. Es gibt so viel Schlamm, Nebel, Wind und Kälte hier, dass mir ALLES TOTAL EGAL IST.

Endlich bin ich da. Die Sonne kommt raus, als ich mich nähere. Wenigstens kann ich meine Sachen drinnen im Fenster an der Sonne trocknen. ES IST ZEIT ZU ESSEN!!
Rifugio da Belagua
Ich nehme einen Kaffee mit Milch und Zucker und einen Belagua Teller mit gebratenem Schinken, Pommes-Frites und einem unglaublich guten Salat. Da sind so viele andere Zutaten drin als nur Salat – Karotten, Mais, Zwiebeln, Gurken, Tomaten, Eier. YUM !! Eine Weile überlege ich, ob ich das Ganze noch einmal bestellen soll :)) am Schluss entscheide ich mich NUR für ein Dessert – Cheesecake :)


Ursprünglich wollte ich noch weitergehen, aber es ist so windig und kalt draussen, ausserdem spüre ich den Gruppendruck, also gehe ich fragen, ob sie im Refugio für heute Nacht noch Platz haben. Ich bekomme das letzte freie Bett.
Ich bekomme eine persönliche Führung durch das gesamte Refugio und ein hübscher Spanier mit Bart lächelt mich schön an und zeigt mir mein Bett für die Nacht. «This will be your bed», sagt er. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll: «And where is your bed?» Schon wieder denke ich an den grossen männlichen Arm, der mich umarmt. Und wer weiss, vielleicht würde ich am Morgen sogar ein Frühstück vom Hütten-Wächter bekommen – ich würde ihn um den Kaffee und die Sandwiches bitten.
Leider traue ich mich nicht, ihn zu fragen, wo er schläft, und bereue es den Rest des Abends. Von nun an nehme ich mir vor, das, was ich fühle, in dem Moment zu kommunizieren, in dem ich es fühle, UND NICHT DREI STUNDEN, ZWEI TAGE SPÄTER ODER NIE !! Ich verspreche mir es hier zu trainieren.
Refugio Belagua ist in Spanien und ES GEFÄLLT MIR HIER. Ich danke, dassd ich die Spanier nach dieser Wanderung sehr gern haben werde. Sie sind fröhlich, warmherzig, hilfsbereit und verstehen Humor. Es stimmt zwar, dass sie viel schreien, aber das ist in Ordnung, denn ich schreie ja auch schon. Sonst würde mich in dem Krawall NIEMAND HÖREN (lest es sehr laut).
Ich unterhalte mich mit Judith und Max aus Deutschland, die die HRP in der anderen Richtung von Ost nach West laufen, und dann GEHE ICH LANGE DUSCHEN. Schon wieder eine warme Dusche, ich werde hier zu verwöhnt. Ich wasche auch meine Kleider unter der Dusche und verbringe den Rest des Abends im Gemeinschaftsraum mit den anderen Gästen, wo ich zu den Klängen fröhlich schreienden Spanier den Blog schreibe.
Ardane Gaïnekoa – Refugio Belagua / 11,9 km / +622 m / -508 m