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Kdo jsem

HRP - Tag 16

Gebrochene Herzen und Angst

22.8.2024

Das Zelt packe ich am Morgen als die letzte, bin nicht die letzte, die weggeht. Die anderen packen zuerst und machen danach draussen Frühstück. ICH KOMME AUF KEINEN FALL AUS DEM ZELT RAUS, BEVOR ICH MUSS !!

Heute habe ich wieder mehrere Bergpässe vor mir. Ich überquere die ersten zwei – Col d’Arratille, 2528 m, und Col des Mulets, 2591 m. Beide sind einfach und es gibt einen gut sichtbaren Weg über sie. Obwohl ich ziemlich weit oben bin, ist es völlig windstill und sehr warm.

Nach dem Aufstieg auf den Pass kommt was anderes als … DER ABSTIEG :) Der Blick auf den Rest des Glacier des Oulettes de Gaube öffnet sich vor mir, mit der Hochebene und dem Gletscherfluss, der sie in Form vieler kleiner Flüsse durchfließt. Auf dem Felsen über all dem steht das Refugio, und überall dazwischen laufen Pferde und Menschen. Es ist wirklich wunderschön hier.

Refugio des Oulettes de Gaube

Am Refugio angekommen gehe ich rein und setze mich hin, denn ich muss mich etwas abkühlen. Es gibt absolut keine Möglichkeit, sich vor der Sonne zu verstecken! Ich nehme einen Kaffee mit Zucker und einen Birnenkuchen. Es gibt auch ein Omelett aus drei Eiern mit Kartoffeln über den ganzen Teller, worauf ich zwar Lust, aber auch Angst davor habe. Drei frittierte Eier bei dieser Hitze und mein Körper, der seit dem Morgen WIRKLICH HART ARBEITET … ich nehme lieber nur den Kuchen!

Gebrochene Herzen

Nach dem Ausruhen unten im Refugio folgt was anderes als … DER AUFSTIEG. Ich gehe um den Gletscher herum und beobachte den Gletscherfluss, der in einer starken Strömung aus ihm herausfließt. Sein eisiges Herz blutet. Dazu schütten gelegentlich Steine klappernd von ihm herunter, als würde sein gebrochenes Herz in der Sonne noch mehr zerspringen. 

Während ich laufe, denke ich auch an mein gebrochenes Herz und den daraus fliessenden Fluss aus Traurigkeit, Tränen und jetzt vor allem Schweiss. Ich frage mich, wer von uns beiden länger hier sein wird und wessen Herz zuerst heilen wird. Das Gletscherherz bricht jeden Sommer und heilt im Winter wieder. Ich wünsche mir, dass etwas so Einfaches wie der Wintereinbruch ausreichen würde, um auch meines zu heilen. 

Ich bemitleide den Gletscher und ich bemitleide mich selbst. Um die traurigen Gedanken zu vertreiben, beschleunige ich und in fünf Minuten fliesst ein Schweissflusss aus mir, definitiv grösser als aus dem Gletscher!

Die Angst abgeben

Bald erreiche ich den nächsten Pass, Horquette d’Ossou, 2734 m. Dort lasse ich meinen Rucksack liegen und renne nur mit den Stöcken noch 300 m hinauf zum ersten Dreitausender meiner HRP, Petit Vignemale, 3032 m. 

Es ist überhaupt kein schöner Hügel, sondern eher ein hässlicher Berg aus schmutzigen Steinen und Sand, und ich frage mich, was für einen Sinn es hat, überhaupt hinaufzugehen. Warum steige ich auf einen hässlichen Haufen Steine, nur um unmittelbar danach wieder hinunter zu steigen?

Die Antwort finde ich auf dem Gipfel. Ich fühle mich wie ein Vogel, der im Wind gleitet und mich und mein ganzes Leben mit Gelassenheit von oben beobachtet. Ich und meine Probleme sehen im Vergleich zu dieser Aussicht ganz winzig aus.

Zwei andere stinkende Spanier sind hier (oh Gott, ich hoffe, ICH STINKE NICHT SO VIEL !!), wir fotografieren uns gegenseitig. Sie machen ein Foto von mir, wie ich mich selbst umarme. AUCH OHNE DIE GROSSE MÄNNLICHE HAND WILL ICH MICH GERN HABEN. Dann gehen sie, und ich stehe allein auf dem Gipfel des Berges, um mit ihm zu reden. 

Ich sage ihm: «Ich lasse meine Angst hier, meinen Mitmenschen zu sagen, was ich fühle, besonders wenn es etwas Trauriges oder Abweisendes ist oder etwas, womit ich nicht selber umgehen kann. Ich lasse auch die Angst hier, ihnen zu sagen, DASS ICH ETWAS AN IHNEN NICHT MAG. Ich will keine Angst mehr haben, dass sie mich nicht mögen werden, wenn ich mich zeige, so wie ich bin. Und dass sie mich verlassen werden, wenn ich etwas an ihnen nicht mag. Wenn sie mir nicht zuhören können, sich wehren, schlecht reagieren und gemein zu mir sind, IST DAS NICHT MEINE SCHULD.»

Wenn ich auf dem Berggipfel stehe, übergebe ich ihm meine Angst und bestätige es, indem ich ihn anschreie. ICH SCHREIE MICH SELBST AN, DIE ANGST UND ALL DIE MENSCHEN UNTER MIR. So, dass es jeder gut hören kann !!

Ich steige herunter und ich FÜHLE, WIE MICH DIE ANGST VERLÄSST. Ich trage dieses schüchterne Gefühl schon seit Tagen mit mir herum, traue mich aber erst jetzt, es zuzugeben. Immerhin habe ich es geschafft, allein einen Dreitausender zu besteigen, auch wenn er hässlich und nicht sehr schwierig war. Natürlich werde ich AUCH WEITERHIM EIN WENIG ANGST HABEN UND MANCHMAL AUCH SEHR VIEL, aber es wird nicht mehr so schlimm sein, denn ICH HABE MICH ENTSCHIEDEN.

Auf dem Weg nach unten treffe ich die erste FRAU, DIE HIER ALLEINE IST und eine Weitwanderung macht. Sie macht nicht die HRP, sondern die GR10, aber ich freue mich trotzdem und wir haben ein schönes Gespräch. Sie heisst Valentine, wandert seit Mitte Mai und ist schon wieder sehr nett !!

Ab nach Gavarnie zum Zero Day

Ich hole meinen Rucksack ab und gehe zum Refuge Bayssellance, das mit 2650 m sehr hoch steht!

Dem Hüttenwart richte ich den Gruss von den Leuten aus, die ich vor ein paar Tagen getroffen habe, schaue mir die schön hergerichteten Biwakplätze an, auf Terrassen, umkreist mit Steinwänden zum Schutz vor dem Wind, trinke einen KIRSCH APERITIV AUF DIE ANGST und um 18 Uhr gehe ich weiter. 

Es wäre schön, hier in einem der Biwaks zu schlafen, ich will aber morgen so schnell wie möglich im Dorf Gavarnie ankommen und dort NICHTS TUN !! Denn ich fange an, mich sehr müde zu fühlen, und wenn ich hier übernachte, müsste ich morgen noch sieben Stunden laufen. UND DAS GEHT ALSO GAR NICHT!

Also gehe ich hinunter zum See, gegen 21h baue ich das Zelt direkt neben einer Schäferhütte und schlafe. Ich bin fest entschlossen, am Morgen schnell aufzubrechen und so schnell wie möglich im Dorf zu sein.

Lac d’Arratile – Barrage d’Ossoue / 17,4 km / +1311 m / -1734 m

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