Hospiz Rioumajou
Das Hospiz Rioumajou ist so ein besseres Refugio. Der Hüttenwart ist allein da und ist nicht besonders nett zu mir. Ich frage ihn, ob ich hier essen und duschen darf, denn nach dem heutigen Tag würde ich es wirklich schätzen. Essen ist nur mit Voranmeldung möglich und duschen würde gehen, aber erst am Morgen und für fünf Euro. «Hm, na gut, und kann ich hier wenigstens etwas trinken?» gebe ich nicht auf. «Ja, das geht.» antwortet er. «Habt ihr Rotwein?» frage ich. «Ja.» «Okay, ich bin gleich wieder da.»
Das Zelt baue ich auf dem Plateau neben dem Refugio auf, stopfe mir eine Handvoll Nüsse in den Mund und gehe Wein trinken. Essen werde ich nachher, JETZT WILL ICH VOR ALLEM DEN WEIN !! Ich weiss nicht, wieso, aber rote Getränke geben mir hier fast magische Menge Energie. Etwa wie Gummibeerensaft den Gummibären oder Spinat dem Popeye :))
Belegschaft der Hütte
Der Hüttenwart vergisst mich zunächst völlig, serviert das vorbestellte Abendessen an drei Tischen und wirkt sehr gestresst. Da sind ein Herr um die 40 mit seiner Mutter, ein älteres Paar und zwei schüchterne spanische Wanderer. Als er mich schliesslich fragt, was für einen Wein ich möchte, bringe ich alle mit meiner Antwort zum Lachen: «Nicht zu trocken, nicht zu süss, einfach etwas Gutes in der Mitte.» Auch der Hüttenwart lacht über mich und wirkt sofort viel sympathischer.
Ich trinke Wein und schreibe. Ich fühle mich gut. Als ich ein zweites Glas bestelle, beobachtet mich die gesamte Besatzung der Hütte neugierig, und der Hüttenwart lacht mich wieder aus und fragt, was ich hier mache. «Ich mache die HRP.» Ha! Der Hüttenwart setzt sich zu mir an meinen Tisch, bringt ein Glas für sich und eine neue Flasche Wein mit. Sein anfängliches Desinteresse ist völlig verschwunden und wir beginnen UNTER STRENGER AUFSICHT aller anderen Gäste zu reden.
Der Hüttenwart heisst Jonathan und entschuldigt sich, dass er anfangs so unfreundlich zu mir war. Er sagt, er sei müde und habe mich falsch eingeschätzt. Aha. Er sagt, das zweite Glas Wein gehe auf ihn, um sich zu entschuldigen. Ich sage JA dazu.
L’esprit montagnard
Plötzlich geht alles ganz schnell. Wir reden über Berge und ich erzähle, wo ich heute war. Er ist beeindruckt, dass ich den Mut gefunden habe, allein die HRP zu machen: «Aber ich bin nicht mutig, ich bin hier, weil ich so viel Angst habe!» Er nickt verständnisvoll. Er sagt mir, ich solle stolz auf mich sein. Er sagt, dass es nur sehr wenige Menschen auf der Welt gibt, die sich trauen, so etwas zu tun, und bestehen. Dass es eine riesige mentale Stärke erfordert, die ich haben soll. Ich starre ihn ungläubig an, ebenso wie der Rest der Hütte. Ich bin an solche UNTERSTÜTZUNG NICHT GEWÖHNT und weiss schon wieder nicht, was ich darauf antworten soll.
«Willst du duschen?» fragt er. «Du hast gesagt, es geht erst am Morgen», wende ich ein. «Da wusste ich aber noch nicht, wer du bist.» Ich protestiere nicht mehr, sage JA und gehe zum Zelt, um meine Sachen zu holen. Damit ist der Spass für die Hüttengesellschaft zu Ende und einige gehen langsam zu ihren Zimmern, weil sie sicher früh aufstehen wollen. Ich dusche mit lauwarmem Wasser und wasche mir die Haare. Ich fühle mich grossartig. DANKE !!
Ich gehe zurück zu Jon und wir machen weiter mit dem Gespräch und der Flasche Wein. Jon ist ein Bergsteiger. Er klettert auf Berge und fliegt dann mit dem Fallschirm runter. Er hat die korsische GR20 ALLEIN UND IM WINTER GEMACHT !! und hat grossen Respekt vor Leuten wie mir. Was ?? Warum vor mir ?? Ich habe wieder diese grosse mentale Stärke. Ich weiss nicht, was ich sagen soll, es dauert eine Weile, bis ich antworte, und ich muss vergessen haben, den Mund zu schliessen, denn er fragt mich, ob ich Hunger habe. «Ja, ich habe noch nicht gegessen.» «Was ??» Ich erkläre ihm, wie sehr ich heute den Wein wollte, und er lacht mich wieder aus. Er sagt, er wird für mich das Abendessen kochen, und fragt, worauf ich Lust habe. «WAS ??» Ja, es ist nämlich L’Esprit Montagnard. Der Geist des Bergsteigers. Ich laufe über die Berge und er respektiert das und will mir helfen. Mit offenem Mund sage ich auch zum Abendessen JA und es ist mir egal, was ich esse, Hauptsache, ich bekomme viel davon. Jon lacht mich wieder aus und wir gehen zusammen in die Küche kochen.

Die restliche Belegschaft der Hütte geht.
Ich bekomme eine gebratene Entenkeule und einen riesigen Haufen Pommes! Wünsche ich mir Mayonnaise oder Ketchup? Immer Mayonnaise! Wir füllen unsere Gläser nach. Ich verspeise alles und Jon lacht mich wieder aus. Er geht in die Küche und kommt mit Eis zurück. «Ist das L’Esprit Montagnard?» frage ich. «Natürlich!» :)) Als ich mit dem Eis fertig bin und dann noch den Rest des Brotes aus dem Körbchen aufesse, lacht sich Jon krank. Ich lache auch. Wir haben keinen Wein mehr. Jon fragt mich, ob ich ein bisschen Armagnac haben möchte. Ich antworte, dass ich nicht weiss, was das ist. Armagnac ist ein Schnaps, der aus Pflaumen und Trauben hergestellt wird. Und ich sage schon wieder JA !
Jon bringt eine noch geschlossene Flasche Armagnac und zwei Gläser. Beim ersten Schluck habe ich eine Grimasse gezogen, also bringt Jon einen Löffel und Zucker. Man legt den Zucker auf den Löffel, dann giesst man den Armagnac darüber und so trinkt man es. So schmeckt es mir besser und auf diese Art esse ich etwa drei Stück Zucker und TRINKE EIN BISSCHEN ARMAGNAC :)) Jon bietet mir an, hier zu schlafen, wenn ich will. ER WILL MIR EIN BETT GEBEN !! Versteht ihr das? Er will mich hier in dieser wunderschönen Herberge schlafen lassen !! Ich sage JA dazu und danke Jon und in seiner Vertretung auch dem l’esprit montagnard.
Als die Flasche Armagnac halbleer ist, gehen wir beide in den Personalbereich der Hütte schlafen. Ich habe mein eigenes Zimmer mit einem grossen Bett und einem Dachfenster mit Blick auf die Sterne. Ich gebe Jon einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange. Er war unglaublich nett zu mir und ich frage mich, ob ich wirklich allein in meinem schönen Zimmer schlafen will.
Eine Weile stehen wir beide unsicher da, schauen uns an, sind uns nahe, und dann gehen wir jeder in sein Zimmer. Es war ein so schöner Abend und jetzt gehen wir schlafen. Ich probiere mich selbst unsicher zu überzeugen und meine Gedanken wirbeln unkontrolliert im Fantasieland.
