Morgen
Ich stehe auf und bin durstig, aber ansonsten fühle ich mich sehr gut und frisch. Ich bewundere meinen Körper, der so viel laufen, so viel essen und dazu noch den Alkohol verkraften kann, den ich ihm eingeflößt habe. DANKE, KÖRPER, DU BIST GROSSARTIG!

Als ich an Jons Zimmer vorbei gehe, höre ich ihn im Schlaf seufzen, denn er liess die Tür über Nacht halb offen. Wahrscheinlich mag er es nicht, in einem geschlossenen Zimmer zu schlafen. Oder war das eine Einladung, die ich verschlafen habe? :) Ich lächle und fühle mich seltsam glücklich.
Im Gästebereich finde ich das Bad und treffe den Herrn, der mit seiner Mutti hier ist. Mit einem seltsamen Lächeln wünscht er mir einen guten Morgen. Hm.
Ich packe den Schlafsack und grüsse die beiden schüchternen Spanier unten in der Bar, die zögerlich vor der Theke stehen, als ob sie auf etwas warten. Sie sagen aber nichts zu mir, und ich gehe hinaus, um das unbenutzte Zelt einzupacken, das über Nacht wunderbar getrocknet ist.
Während ich packe, sehe ich die Mutti des Herrn, die entschlossen über den Rasen auf mich zustürmt, hinter ihr folgt der Sohn, der aussieht, als wäre er lieber gar nicht hier.
«Guten Morgen», grüßt sie mich. «Guten Morgen», antworte ich. «Wissen Sie zufällig, wo der Manager der Lodge ist?» «Wer?», verstehe ich sie zunächst nicht. «Jon, der Hüttenwart!» klärt sie mich auf. «Ach, der. Ja, das weiß ich. Er schläft noch.» antworte ich ein wenig überrascht. Ich habe keine Ahnung, wie hier alles funktioniert, ob es überhaupt Frühstück gibt oder wer vom Personal es zubereitet. Jedenfalls war die Bar dunkel und alles war geschlossen. «Und könnten Sie ihn wecken gehen? WIR WOLLEN FRÜHSTÜCKEN!» schnauzt mich die Dame an. Der Sohn sieht aus, als würde er am liebsten den Kopf in den Sand stecken, und nicht einmal die Pferdescheiße, die hier überall herumliegt, würde ihn davon abhalten. Endlich verstehe ich, was hier vor sich geht. Ich möchte so gerne lachen, aber antworte der hungrigen Mutti mit stoischer Ruhe, dass ich ihn aufwecken werde.
Die Mutti eilt zurück zur Bar, der Sohn ist unsichtbar geworden und ich gehe den Hüttenwart wecken, damit die Besatzung der Hütte essen kann :))
«Hallo Schatz», klopfe ich an seine offene Tür. «Ich wecke dich nur sehr ungern, aber unten warten Gäste auf dich.» Jon dreht sich irritiert im Bett um. «Was? Wie spät ist es?» Er schaut auf das Handy. «MERDE !!»
Es stimmt also, HERR MANAGER HAT VERSCHLAFEN. Außer ihm ist niemand hier, und er soll das ganze Frühstück zubereiten.
Ich gehe runter in die Bar sitzen und schreibe in Ruhe. Jon kommt eine Weile später herein und es sieht so aus, als hätte sein Körper die Party von gestern Abend nicht so gut verkraftet wie meiner. Mutti bekommt Kaffee und Croissant und alle anderen sollten sich persönlich bei ihr bedanken, sonst hätten sie auch erst mittags frühstücken können.

Kaffee gibt es auch für mich, die Gäste frühstücken und fragen sich bei Rührei, was hier in der Nacht alles passiert ist. Jon und ich setzen uns auf die Bank vor der Bar. Er erzählt mir, dass er mich in der Nacht in meinem Zimmer besuchte und dass ich ganz süß zusammengerollt in meinem Schlafsack geschlafen habe. Ah so, lächle ich :) «Tut mir leid, dass ich deinen Besuch verschlafen habe.» entschuldige ich mich. Jon lächelt auch und ich glaube, dass wir uns beide gerade schön wohl fühlen.
Erst um 10 Uhr gehe ich von hier weg, weil ich die gute Gesellschaft genossen und Artikel für euch geschrieben habe. Jon hat sich geweigert, Geld von mir anzunehmen, denn es geht alles auf die Rechnung des L’esprit montagnard. Okay, wenn der L’esprit montagnard das so will, habe ich keine Einwände.
Jon umarmt mich zum Abschied, und ich nehme Liebe von ihm. Er hat mir diese Nacht schon so viel davon gegeben, am meisten gibt er mir aber jetzt, ohne es überhaupt zu wissen: denn er umarmt mich mit seiner grossen männlichen Hand.
Zurück auf dem Trail
Alles, was ich gestern hinuntergegangen bin, gehe ich jetzt auf der anderen Seite des Tals wieder hinauf. Nach gestern tun mir die Beine weh und ich betaste meine Wadenmuskeln. Sie sind hart wie Beton und ich massiere sie ein wenig. Wenn ich mich hier irgendwie verletze, wird es wohl ein Wadenmuskelriss sein, erst am linken Bein und dann am rechten. Ich versuche, so zu gehen, damit ich sie möglichst viel entlaste. Ich benutze also aktiv so viel wie möglich die großen seitlichen Gesäßmuskeln, die so viel Kraft haben, dass sie auch dann weitergehen, wenn alle anderen Muskeln nicht mehr können.



Liebe geben
Ansonsten komme ich aber sehr gut vorwärts und lächle die ganze Zeit dabei. Ich fühle mich großartig, und ICH FANGE AN, ES HIER SEHR GERN ZU HABEN.
Ich überlege mir, wie manche Menschen Liebe geben, ohne etwas dafür zu verlangen. Andere geben sie nur, wenn sie wissen, dass sie dafür etwas zurückbekommen werden. Ich denke darüber nach, dass es nicht immer einfach ist, zur ersten Gruppe zu gehören. Es ist aber so viel schöner, als in der zweiten Gruppe zu sein!
Es ist das erste Mal, dass ich einen herzförmigen Stein auf dem Trail sehe. Normalerweise sehe ich immer überall jede Menge davon, aber dieses Mal gab es bis jetzt keine. Ich habe nämlich aufgehört, an sie zu glauben. Ich stecke das Herz in meinen Rucksack und weiß, dass der Trail mir gerade Liebe geschenkt hat und er nichts dafür zurückbekommen will. Ich sage zum Trail: JA.



Ja sagen
Ich überlege, ich habe gestern zu einer ganzen Menge Dinge JA gesagt. Aber im alltäglichen Leben sage ich zu vielen Dingen NEIN. Ich rechtfertige es vor mir selbst gewöhnlich so, dass ich weiß, was ich nicht will. Aber jetzt fühlt es sich furchtbar verschlossen an. Außerdem … wie kann ich mir immer so sicher sein? Und was ist, wenn ich es nicht will, es aber brauche?
Ich beschließe, dass das die nächste Sache ist, die ich ändern muss. Weniger NEIN und mehr JA sagen. Mich überraschen lassen und darauf vertrauen, so wie ich dem Trail hier vertraue, dass er mir genau das geben wird, was ich brauche.
Denn manchmal, alles was wir machen müssen ist, mit unserer Angst reden, dann aufhören, Angst vor der Angst zu haben, und JA sagen.



GR11
Ich überquere den Puerto de Urdiceto, 2403 m von Frankreich nach Spanien und stoße bald auf die GR11. Die GR-Hiker kommen zu der Kreuzung von unten, ich von oben, was ein grosser Unterschied zwischen der GR10/11 und der HRP ist. Weiter hat GR hat einen breiten, bequemen Pfad mit einer angenehmen Steigung, während die HRP eher fast unpassierbare Stufen aus großen Steinen und Grasbüscheln hat. Die GR hat Brücken über Flüsse, während man auf der HRP prinzipiell von einem Stein zum nächsten springt.



Auf der GR ruhe ich mich immer aus, laufe viel und langweile mich bald :)) Aber heute genieße ich es lange, nach gestern, dazu es ist schon wieder wunderschön hier. Erst gegen Ende des Tages wird die Schotterstrasse eintönig und ich fange an, mich wieder auf die Schieferhölle zu freuen :))



Unterwegs fotografiere ich neben den schönen Aussichten zwei interessante Merkwürdugkeiten: eine eiserne Quelle, die direkt unter meinem Schuh aus dem Boden fliesst, und die größte Kuhscheiße in den ganzen Pyrenäen.


Wetter
In der Bar des Campings El Forcallo, wohin ich am Nachmittag absteige, nehme ich einen Schokoladenkuchen, um meine Energie wieder aufzufüllen, und gehe weiter. Im Refugio de Viados erkundige ich mich nach dem Wetter, und die Hüttenwärtin fotografiert es für mich vom Computerbildschirm. Ab morgen sind fast jeden Tag Gewitter angesagt, UND ZWAR FÜR DIE GANZE WOCHE!


Das ist großartig, denke ich, ES WIRD MIR SCHON WIEDER NICHT LANGWEILIG. Ich komme nämlich jetzt in den Abschnitt, in dem ich die drei höchsten Pässe der gesamten HRP überqueren muss !!
Hospice du Rioumajou – kurz vor dem Col d’Aygues Tortes / 22,1 km / +1769 m / -1026 m

