Ich wache auf und draußen ist es hell. Und ist es nicht. Und es ist hell. Und ist es nicht. Jemand blinkt direkt über meinem Kopf auf mein Zelt mit einer wirklich starken Taschenlampe ?? NEIN. ES SIND BLITZE, DIE GAR NICHT MEHR WEIT WEG SIND !!
Mitten in der Nacht beginnt die Party des Jahres mit Stroboskoplicht, einer Discokugel und tiefen Bässen, oder das berühmte Pyrenäen-Gewitter, oder das größte Gewitter, das ich je gesehen habe, UND ICH LIEGE DARIN IM ZELT IN DEN BERGEN AUF ZWEITAUSENDVIERHUNDERT METERN !! DAS MUSS DOCH WOHL EIN WITZ SEIN !!
Es blitzt aus allen Richtungen, und jedes Mal wird es so hell hier, als ob jemand das starke Licht auf mich richten würde, das man im Spital im Operationssaal hat. Es donnert wahnsinnig von überall her und ich werde auch wahnsinnig. Es fällt mir ein, dass hier gerade sicherlich Aliens landen, und ich hoffe, dass sie mein leuchtend gelbes Zelt nicht für ein Orientierungslicht halten !! Also nicht, genau hier ja, sondern GENAU HIER LANDET NICHT !!
Ich denke über meine Möglichkeiten nach und komme leider schnell zu dem Schluss, dass ich nicht viele habe :)) Zurück zum Refugio zu gehen, scheint mir keine gute Idee zu sein, denn da musste man über einen Felsen kraxeln, und diese Variante schließe ich aus. Weiter zum hohen Pass zu gehen, kommt mir gar nicht in den Sinn, wofür mir mein Überlebensinstinkt laut dankt. Also bleibe ich im Zelt liegen und ergebe mich den Elementen.
Als ich im Schlafsack liege, denke ich über meine Trekkingstöcke nach, die unter dem Zelt auf der Seite verstaut sind. Ich überlege mir, dass ich sie ein Stück weg vom Zelt werfen sollte. Das ist das grösste Stück Metall, das ich dabei habe, und wenn ein Blitz in irgendetwas einschlägt, dann AUF JEDEN FALL IN DIE STÖCKE. Ich habe aber keine Lust, in den Wind und Guss raus zu gehen, und LASSE DIE STÖCKE, WO SIE SIND!
Der Sturm dauert VIER STUNDEN !!, während denen der Blitz, der Donner und der Regen nicht aufhört. Ich bin froh, dass ich das Zelt im Baskenland im Bergwind getestet habe, so weiß ich, dass dieser Wind nicht so stark ist und das Zelt ihm wahrscheinlich standhalten kann. Heute Abend teste ich eher die Wasserdichtigkeit :))
Bis zum Ende des Spektakels bin ich wach, aber danach schlafe ich endlich ein und wache erst am Morgen wieder auf. Ich krieche aus dem Zelt und Graeme und ich schauen uns prüfend an. WIR HABEN DAS PYRENÄEN-GEWITTER DES JAHRES ÜBERLEBT !! Wir umarmen uns, und ich glaube, wir sind beide ziemlich froh, dass wir nicht von den Aliens zerquetscht worden sind :))


Erster und zweiter Pass
Am Morgen regnet es nicht mehr, Graeme sitzt vor dem Zelt und meditiert, um sich zu beruhigen :), ich laufe los und gehe zum ersten Pass Col des Gourgs Blancs, 2876 m. Alle Steine sind dank des Windes bereits trocken und der Pass ist nicht schwierig. Es ist schon wieder wunderschön hier!

Ich spüre, dass dies ein guter Ort ist, um hier etwas abzugeben. Ich erzähle dem Berg, was ich mir vor ein paar Tagen versprochen habe. Meine Gefühle zu erkennen und schnell auf sie zu reagieren. Nicht erst in zwei Tagen und NICHT ERST IN EINEM HALBEN JAHR !! Die Angst nicht ignorieren, sondern ihr zuhören und mit ihr reden. Mich selbst nicht ignorieren und MIR NICHT IMMER EINREDEN, DASS ICH ES AUSHALTE. Mich schnell regulieren, damit ich im Hier und Jetzt sein und MICH SICHER FÜHLEN KANN.


Ich schreie es auf all die Berge um mich herum, die mit einem so starken Echo antworten, dass ich mich erschrecke. Um mein Versprechen zu bestätigen, lege ich einen weiteren Stein auf den Kopf des lokalen Steinmännli.
Über ein grosses Boulderfeld überquere ich auch den zweiten Pass, Col du Pluviomètre, 2860 m, in der Ferne hinter mir sehe ich Graeme und mir gegenüber treffe ich die erste Frau, die auch alleine den HRP geht! Über die nicht enden wollenden großen Blöcke komme ich langsam weiter bis zum Refugio Du Portillon.




Schon wieder muss ich mich entscheiden
Drei Deutsche sitzen auf der Terrasse vor dem Refugio und fragen mich, ob ich den Sturm gut überstanden habe. Ich erzähle es ihnen und sie schütteln den Kopf. Sie haben auch draußen geschlafen, aber mitte in der Nacht haben sie alles gepackt und sind im strömenden Regen ins Refugio umgezogen. Heute sitzen sie schon den ganzen Tag hier und gehen nirgendwo hin, wegen der erneuten heutigen Gewittergefahr. Angesichts der Wettervorhersage befürchte ich, dass sie noch sehr lange hier bleiben werden.


Heute würde ich gerne den letzten der drei Pässe überqueren, aber ich bin müde nach der grossen Nachtparty, also esse ich hier etwas, denn ich brauche Energie! Leider gibt es hier keine Kuchen, also gebe ich noch eine Chance einem Omelett. Dazu nehme ich einen Kaffee, und weil es mir noch nicht reicht, nehme ich zum Schluss noch eine heiße Schokolade. Zwei Eier, Milch und grosse körperliche Anstrengung, na, ich denke, ich werde es später bereuen :)


Graeme kommt herein und wir überlegen, ob wir über den letzten Pass gehen, oder hier bleiben. SCHON WIEDER MUSS ICH MICH ENTSCHEIDEN !! Ich kontrolliere den Himmel und beschliesse, dass ich gehe. Von hier aus sind es nur noch zwei Stunden bis zum Pass, und wenn der Himmel plötzlich wütend wird, komme ich zurück. «Okay, Angst?» frage ich. «Ja, es ist gut, lass uns gehen.» Antwortet sie :) Zum Weitermachen habe ich noch zusätzliche Motivation – nach dem Pass muss ich nur noch absteigen und dann wartet ein Zero Day in Benasque auf mich !!
Graeme zögert lange, aber schliesslich laufen wir gemeinsam los. Und es war eine gute Entscheidung, denn der Sturm kam nicht !! Wir überqueren gemeinsam den letzten Pass, den Col Inférieur de Litérole, 2980 m DEN HÖCHSTEN PASS AUF DER GANZEN HRP !!





Wir gehen durch einen Film
Auf der anderen Seite ist eine absolut unglaubliche Landschaft mit wunderschönen beigen Felsen und ich fühle mich, als würde ich durch einen Film gehen. Der Abstieg ist lang, aber ich genieße ihn so sehr. Wir laufen mehrere Stunden über große Blöcke, in dieser Art von Terrain macht es mir viel Spass. Graeme und ich wechseln uns regelmäßig bei der Suche nach Steinmännlis ab.



Graeme ist Pilot und erzählt mir über Wolken. Cumulus nimbus ist der Feind aller Wanderer, weil es aus ihm regnet! :)) Er erzählt mir auch, dass er in der Nacht im Gewitter Angst hatte, sich auf seiner Luftmatratze zu bewegen, weil seine Haare zusammen mit der Matratze statische Elektrizität erzeugen und ihn zu einem Zielscheibe für Blitze machen. Das ist noch schlimmer als meine Trekkingstöcke !! Wir lachen so sehr, die Angst der letzten Nacht fällt von uns ab und wir freuen uns, dass es uns noch gibt :)) Dreimal Hurra meiner Faltmatratze, die nichts elektrisiert !!



Während Graeme im Tal am Fluss anhält, gehe ich weiter. Ich will heute so nah wie möglich an die Straße herankommen, damit ich am Morgen in die Stadt trampen kann und NICHTS KANN MICH DAVON ABHALTEN !! Zum ersten Mal laufe ich bis zur Dunkelheit und baue das Zelt mit einer Stirnlampe im Wald auf, etwa eine Viertelstunde von der Straße entfernt. Dann kommt der angekündigte Sturm, aber da liege ich schon im Zelt und mit dem gestrigen Spektakel kann man dieses Stürmchen sowieso nicht vergleichen. Zero Day, ICH KOMME !!




Wichtige Mitteilung
Nach dem heutigen Tag verspreche ich, dass ICH HIER NIE WIEDER EIN OMELETT ZUM MITTAG NEHME !! :))


Lac des Isclots – im Wald vor Benasque Hospital / 14,6 km / +998 m / -1505 m