Sun, Here I Come

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Kdo jsem

HRP - Tag 30

Ivan und meine Oma

05.9.2024

Angesichts der zwei Kaffees und der Zuckermenge, die ich letzten Abend gegessen habe, konnte ich natürlich nicht schlafen. Es stört mich aber nicht, denn nach einem Tag, an dem es jede Stunde mindestens zwanzig Millimeter geregnet hat, IM BETT ZU LIEGEN, ist einfach schön. Ich schlafe nicht, ich schreibe, atme in aller Ruhe die warme Luft des Elektroofens ein und denke, dass ich in diesem Moment wirklich glücklich bin.

Sich glücklich zu fühlen ist eine seltsame Sache. Ich glaube, viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass sie sich in einer solchen Situation jemals glücklich fühlen könnten. Anstatt sich zu freuen, dass sie nicht draussen in diesem Sibirien schlafen müssen, schauen sie sich mit ihrem stets kritischen Blick im Zimmer um und denken: Hier ist alles schmutzig und hässlich … das letzte Mal, dass das Bad geputzt wurde, ist etwa ein Jahr her … Gott weiss, wer in diesem Bett geschlafen hat … sind die Laken sauber? … dies ist kein Bettbezug … ich schlafe unter einem Tischtuch !! … schon heute hat es nur geregnet und morgen wird es sicher wieder scheußlich… ich rufe mir ein Taxi und fahre zu einem ECHTEN HOTEL, denn was mache ich in diesem Drecksloch ??

Im Vergleich dazu bin ich wohl ziemlich seltsam, denn ich empfinde hier ein ungewöhnliches Gefühl von Glück und Erfüllung. Als hätte ich hier alles, was ich brauche… Was aber keinen Sinn macht, denn ich bin in einem dreckigen, alten Zimmer und SCHLAFE TATSÄCHLICH UNTER EINEM TISCHTUCH. Ich fühle mich an diesem Ort, an dem ich nichts habe, viel glücklicher und lebendiger als im Leben, wo ich alles habe. Ich versuche zu verstehen, warum das so ist, bis mein Gehirn davon völlig erschöpft ist und ich endlich einschlafe.

Frühstück für Champions

Als ich zusammenpacke und nach unten gehe, wartet Ivan bereits ungeduldig mit dem frisch geschliffenen Messer und der erhitzten Pfanne auf mich. Ich muss hungrig sein, vermutet er. Ich schaue in seine strahlenden Augen und mir ist klar, dass ich hier nicht ohne Frühstück weggehen werde. In einem Restaurant ohne Gäste zu sein, ist, glaube ich, ziemlich einsam für ihn. Orte, die dafür geschaffen sind, dass sich viele Menschen ZUSAMMEN glücklich fühlen, strahlen eine intensive Einsamkeit aus, wenn sie leer sind.

Heute Morgen bin ich also der einzige Gast von Ivan. Zum Frühstück bringt er mir Kaffee, getoastetes Brot mit geschmolzener Tomate, gebratene Wurst und zwei Eier, und zum Schluss ein warmes Schokoladenküchlein, das in der Mitte schön flüssig ist. Ich esse alles auf.

Während ich an meinem zweiten Kaffee nippe, beginnt Ivan, mir Essen zum Mitnehmen zu bringen. Suppe in einer Flasche, ein Bocadillo – ein Sandwich mit gebratener Wurst, ein Becher mit frisch pürierten Tomaten, Thunfischpaste, die er für sich und El Jefe zum Mittagessen zubereitet hat. Zuerst sage ich JA, aber als er mit einem halben Kilo russischem Salat und einer Pastete kommt, die hier als Vorspeise für 12 Euro verkauft wird und in einer Glasflasche ist !!, fürchte ich mich. Ich erkläre ihm, dass ich nicht alles mitnehmen kann, weil es zu schwer ist und nicht in meinen Rucksack passt. Ich beobachte, wie sich Ivans Gesichtsausdruck in einem Augenblick von Begeisterung in Verzweiflung verwandelt, was mich sehr an meine Grossmutter erinnert. Genau wie sie geht Ivan niedergeschlagen in die Küche, sieht aus wie ein kleiner Unglücksrabe und sucht angestrengt nach dem, was er mir noch zum Mitnehmen mitgeben könnte.

Schliesslich kommt Ivan zurück und bringt mir mit triumphierend funkelnden Augen einen KitKat Riegel mit einer Erklärung – er ist klein, damit er in den Rucksack passt, und eine kleine Tüte Chips – sie sind leicht, damit ich sie tragen kann. Ich sehe ihn an, lächle und bin so gerührt, dass mir fast die Tränen kommen.

Ivan und ich verabschieden uns. Er hat mir während unserer gemeinsamen Zeit so viele spanische Wörter beigebracht, dass ich ihm in meinem jetzt fast fliessenden Italo-Spanisch sage: “Ivan, du bist ein guter Mensch», und ihn umarme. Ich gebe Ivan Liebe, um die er nicht gebeten hat, denn ich spüre, dass nicht ich, sondern er sie in diesem Moment braucht. Er sieht mich gerührt an und wischt sich seine vor Glück feuchten Augen. Und man sagt, dass Männer nicht weinen.

Ich laufe los und trage stolz den gesamten Inhalt meines Magens, die Pastete im Glas und einen Liter Suppe den ersten Hügel hinauf. Gut, dass ich einen ultraleichten Rucksack habe :)) Sonst hätte ich alles auf zweimal hochtragen müssen !!

Das sibirische Wetter ist über Nacht verweht und ich schaue mir an, wie es hier aussieht. Es ist schon wieder so schön hier !! Ich überquere ein paar Pässe, laufe an einigen schönen Seen vorbei und mache in einer hübschen, orangefarbenen Schutzhütte eine Pause und esse einen Riegel. Das beste Frühstück des Trails dient mir den ganzen Tag als Treibstoff, ich halte nicht einmal zum Mittagessen an und denke an Raf. Er hat mir vor ein paar Tagen sehr ausführlich von seinem Frühstück im Hotel Benasque Hospital erzählt, das ihm einen ganzen Tag lang unerschöpfliche Kraft gegeben hat. Es ist ein erstaunliches Gefühl, wenn man seinem Körper Kalorien zuführt und dann spürt, wie er sie verbrennt. Es ist, als würde man ein Feuer nachlegen und ihm dann zusehen, wie es brennt.

Obwohl ich erst nach zehn Uhr gestartet bin, habe ich heute eine gute Strecke zurückgelegt, und am Abend steige ich bis zu meinem Tagesziel ab, dem Dorf Alós d’Isil und dem dortigen Refugio. Auf der Terrasse des Refugios habe ich Empfang und kontrolliere das Wetter. Eigentlich wollte ich noch ein Stück weiterlaufen und am Fluss hinter dem Dorf biwakieren, am Schluss ändere ich aber meine Meinung und bleibe hier. Es ist wirklich unglaublich GRAUSAMES Wetter angekündigt, mit Windgeschwindigkeiten bis zu hundertdreissig Kilometer pro Stunde und Dauerregen. Der Spass soll heute Nacht beginnen und den ganzen nächsten Tag andauern. Ich sehe keinen Grund, das Zelt und meine Nerven in einem pyrenäischen Hurrikan zu testen, und gehe den Refugio Wächter suchen, damit er mir ein Bett gibt.

Ich bin der einzige Gast hier, und der Hüttenwart entschuldigt sich für die Unordnung. Überall liegen halb ausgetrunkene Alkoholflaschen herum und es ist schmutzig hier. Vielleicht gab es letzte Nacht eine Party? Der Hüttenwart erklärt mir, dass die Saison vorbei ist und jetzt nur noch Verrückte wie ich kommen, die die HRP machen. Ich schaue ihn an und mir ist klar, dass er es ernst meint. Na ja, danke :)) Zusammen mit meiner neuen verrückten Identität setzte ich mich in einen Sessel und geniesse, dass ich hier Empfang habe.

Hurrikan Raf

Ich schreibe Raf eine Nachricht und sage ihm, dass ich hier schlafe, wie viel es kostet und wie das Wetter heute Nacht werden soll. Raf hat in den letzten beiden Tagen eine andere Route als ich gemacht, heute wird er aber wahrscheinlich hier durch gehen. Da es oben kein Netz gab, bekommt er die Nachricht nicht, draussen wird es dunkel und Raf ist nirgends zu sehen. Ich mache mir ein wenig Sorgen, vor allem wegen des Unwetters. Auf dem Weg ins Tal gab es kaum Biwakmöglichkeiten, und vor mir kann er nicht sein, denn dann würde er die Nachricht bekommen. Ich möchte nicht, dass der Sturm als Hurrikan Raf in die Geschichtsbücher eingeht, genannt nach dem mutigen, verrückten HRP Wanderer, der ihn auf einer Höhe von zweieinhalb tausend Metern im Notfall überstanden hat!

In eine Decke eingewickelt, in einem Sessel, mit düsteren Gedanken, höre ich draussen plötzlich Stimmen. Ich renne nachsehen, und Hurrikan Raf wird heute Nacht keine Opfer fordern! Auf der Terrasse steht kein anderer als der Held Raf, zusammen mit anderen Wanderern. Ich bin so froh, ihn zu sehen !! Wir rufen den Wächter, und ich werde heute Nacht nicht mehr alleine hier schlafen. Alexia und Julien aus Frankreich und Marek aus der Slowakei sind hier. Eine Gruppe der HRP Hiker, die schnell unterwegs sind, die Raf schon früher getroffen hat, und heute haben sich ihre Wege zum zweiten Mal gekreuzt.

Als ich zusammenpacke und nach unten gehe, wartet Ivan bereits ungeduldig mit dem frisch geschliffenen Messer und der erhitzten Pfanne auf mich. Ich muss hungrig sein, vermutet er. Ich schaue in seine strahlenden Augen und mir ist klar, dass ich hier nicht ohne Frühstück weggehen werde.

Wir erzählen uns unsere Erlebnisse der vergangenen Tage, bereiten das Abendessen zu und gehen ins Bett. Ich bin gespannt, was der nächste Pyrenäen-Nachtsturm uns bis am Morgen bringen wird.

Port de la Bonaigua – Refugio Alós d’Isil / 16.2 km / +931 m / -1719 m

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