Sun, Here I Come

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Kdo jsem

HRP - Tag 33

Gegen den Strom

08.9.2024

Am Morgen habe ich überhaupt keine Lust, die geheizte Hütte zu verlassen. Vom Schlafsack aus beobachte ich, wie sich der Baum vor dem Fenster in den kalten Windböen biegt. Ich denke an Harry Potter und die Peitschende Weide und frage mich zum ersten Mal auf dem ganzen Trail, was ich überhaupt da mache. Der starke eisige Wind kühlt mir die Freude an der Wanderung ab.

Ich geniesse es hier heute nur halb. Ich habe das Gefühl, dass mein Körper allein läuft, meine Gefühle sind weit zur Seite weggeblasen und meine Gedanken noch weiter weg. Das gefällt mir nicht und ich möchte, dass wir alle wieder zusammen sind. Ich habe schlechte Laune und hasse den Wind!

Seit einer Woche ist mir die ganze Zeit kalt und ich frage mich, wo ich falsch abgebogen bin: Ich bin nach Süden in die Pyrenäen gefahren und jetzt bin ich in Island !! Ich wollte in die Wärme !! In Island hätte ich mich anders auf den Winter eingestellt, und es gibt überall Stimmungsbooster: heisse Quellen, heisse Duschen auf jedem Biwakplatz, beheizte Schwimmbäder, Hot Dogs, Pommes und Eiscreme.

Vielleicht geht es mir auch deshalb so schlecht, weil ich immer noch nicht weiss, wo ich heute hin will. Ich zögere und kann mich nicht entscheiden. Über Frankreich, der „offiziellen Route aus der blauen Bibel“ folgend – dem Guide aus dem Ciceron Verlag, den hier alle ausser mir dabei haben, oder über Spanien, dem Pocket Guide folgend? Es ist das erste Mal, dass im Pocket Guide eine Variante nicht erwähnt wird, und das beunruhigt mich.

Ganz angeödet erreiche ich endlich das Refugi de Cercastan. Ich bin gerettet! Das Refugio schafft es schnell ganz nach oben auf meiner Liste der besten Hütten, denn die Hüttenwirtin ist super lieb, und SIE HABEN KUCHEN !! Das lässt auch Spanien in meinen Augen aufsteigen und ich beschliesse, dadurch zu gehen. 

In den spanischen Refugien gibt es, im Gegensatz zu den französischen, mit zwei Ausnahmen (Belagua und hier), keine Kuchen und ICH MUSS dann Omeletts essen, die mich später krank machen. 

Tarte au citron – Zitronenkuchen, Kaffee und gateau au chocolat – Schokoladenkuchen geben mir selbst bei isländischem Wetter Energie. Ich ziehe alle Klamotten an, die ich dabei habe, und zum ersten Mal auf dem ganzen Trail laufe ich in langen Leggings.

Ich gehe weiter, und an der Weggabelung wiederhole ich noch einmal den ganzen Entscheidungsprozess, in welche Richtung ich gehen soll. Was ist heute mit mir los? Am Ende siegt Spanien, endgültig, und ich steige den unmarkierten Weg hinunter, der zu meiner eigenen Variante wird. Auch hier ist es wieder typisch HRP, der Weg ist völlig zugewachsen, ich klettere über grosse Steine und es gefällt mir sehr :)) 

Alle anderen HRPler gehen durch Frankreich, nur ich gehe durch Spanien, und dazu noch auf einem inoffiziellen Weg. Der Mensch, den ich ganz unten in meinem Brusttäschchen trage, sagte einmal über mich, dass ich SEMPRE CONTRO CORRENTE gehe. Immer gegen den Strom. Ich frage mich, ob das ein guter oder schlechter Charakterzug ist. Ich glaube, es ist beides zugleich. Manchmal bin ich stolz auf mich, manchmal schäme ich mich dafür. Ich habe mich der Gruppe von Julien und Mark anschliessen und den Rest des Trails mit ihnen Spass haben können. Sich sportlich pushen, +2500 Meter am Tag laufen, bei schlechtem Wetter, abends ein paar Bierchen trinken, über harmlose Themen reden und über dumme Sachen lachen. Das hätte Spass gemacht und ich hätte es genossen. ABER DAS IST NICHT DER GRUND, WARUM ICH DIESEN TRAIL MACHE. 

Janja Garnbret hat vor ein paar Wochen ihr olympisches Gold im Klettern verteidigt, und ich frage mich, wie viel ENTSCHLOSSENHEIT sie das gekostet haben muss. Wie oft hat sie Nein gesagt zu Spass, Nichtstun und leichteren Wegen. Ich denke sehr oft. Ich denke an sie, bewundere sie und klettere dabei über grosse HRP Felsblöcke.

Eine Sturmeinheit

Als ich um 17h einen weiteren angeschwollenen Fluss im Tal überqueren will, ist es völlig dunkel und sehr windig. Die ersten Tropfen fallen, und mir ist klar, dass der angekündigte Sturm diesmal wirklich vorbeiziehen wird, und zwar direkt über mir. Also wate ich mitten durch das Wasser, denn es ist ganz egal, ob meine Schuhe im Fluss oder vom Regen nass werden. 

Es blitzt, es donnert, und ich zähle. Das Gewitter ist sechshundert Meter von mir entfernt, also ziemlich nah. Es schüttet und hagelt, aber zum Glück laufe ich im Wald und die Bäume schützen mich. Es blitzt und donnert wieder – immer noch sechshundert Meter. Das ist gut, das Gewitter wird nicht hierdurch ziehen. Der nächste Blitz und Donner sind schon weiter auseinander und ich warte unter den Bäumen, bis es vorbei ist. Denn ich weiss von Graeme, dass eine Gewittereinheit dreissig Minuten dauert, und ich habe hier heute nur eine.

Es hört tatsächlich auf zu regnen und ich laufe hinunter zu einer schönen grossen, windgeschützten Wiese, wo es ganz windstill ist! Es ist zwar erst halb sechs und ich könnte problemlos weitergehen, aber ich beschliesse, hier zu bleiben. Hier ist es nämlich perfekt. Als ich das Abendessen koche, regnet es wieder.

Cabana de Guerossos – Pla de Boavi / 12.1 km / +724 m / -1276 m

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