Am Morgen unterhalten wir uns alle so herzlich, dass ich das Gefühl bekomme, wir sind Freunde seit der Kindheit. Wir sind hier ZUSAMMEN UND GEBEN UNS GEGENSEITIG LIEBE UND ZUHAUSE :) César hat sich gestern krank gefühlt und hat sich übergeben, heute sieht er etwas besser aus. Ich verlasse das Refugio, aufgewärmt an Körper und Herz, und steige die letzten dreihundert Meter zum Pass Portella de Baiau, 2757 m, über den ich endlich Andorra betrete !! :))
Auf dem Weg zum Pass muss ich schnell ein Loch graben, was in dem rutschigen Blockgelände und dem steilen Hang nicht einfach ist :)) Das passiert mir hier nur selten, hm. Der Pass ist ziemlich technisch, und ich geniesse den Aufstieg nach der unerwarteten Erleichterung sehr. Die Tür nach Andorra öffnet sich für mich in drei … zwei … eins … ICH BIN DA !!
ENDLICH !! Ich habe das Gefühl, eine ganze Ewigkeit nach Andorra gelaufen zu sein!



Comapedrosa
Verglichen mit den letzten Tagen und dem gestrigen Tag, gibt es HEUTE ÜBERHAUPT KEINEN WIND !! Trail provides und ermöglicht es mir, den höchsten Berg Andorras zu besteigen! Ich lasse den Rucksack auf dem Pass und mit nur meinen Stöcken renne ich zweihundert Meter hoch zum Dach Andorras, Alt de Comapedrosa, 2944 m. Wahrscheinlich sollte ich das Wort “ich renne“ durch „ich bin ohne Rucksack und fühle mich leicht wie ein Federchen, bewege mich aber immer noch kaum“ ersetzen, um genau zu sein :))
Der Pfad ist locker, aus Schieferschutt und sandig, was ich hasse, also gehe ich senkrecht über die Felsen hinauf und bald STEHE ICH GANZ ALLEIN FRÜH MORGENS AUF DEM HÖCHSTEN BERG ANDORRAS. Ich habe eine unglaubliche Aussicht, mit nichts als Bergen um mich herum und unter mir, und ich schaue ehrfürchtig und mit offenem Mund zu. Ich staune. Es ist windstill, der Himmel könnte nicht blauer sein, man kann fast bis zum Meer sehen, es ist niemand hier und ICH FÜHLE EINE RIESIGE DANKBARKEIT DAFÜR, DASS ICH EINFACH NUR DA BIN. Ich fühle mich bewegt und gebe mich ganz der romantischen Vorstellung hin, dass die Welt ein schöner Ort ist und alle Menschen gut sind. Ich bin glücklich und schreie diese ideale Welt an, wahrscheinlich hauptsächlich, damit ich wenigstens lange genug an diese Idee glaube, bevor ich meinen Rucksack abhole und, zusammen mit seinem Gewicht, auch das Gewicht der Naivität meiner Vorstellung auf mir lastet.







Refugio Comapedrosa
Mit dem Rucksack auf dem Rücken kehre ich schnell in die harte Realität zurück und beginne den fast tausendfünfhundert Meter langen Abstieg hinunter in das Städtchen Arinsal. Auf dem Weg treffe ich eine Vielzahl von Menschen, die sich, wie ich, auf dem Gipfel ihres unabhängigen katalanischen Traumstaates Andorra, den Träumen von der guten Welt hingeben wollen. Ich halte am Refugio Comapedrosa, das riesig und düster ist und wie die geheime Residenz eines russischen Oligarchen aussieht, der sich in den andorranischen Bergen vor seiner harten Realität versteckt. Aber es gibt Kuchen und eine Sonnenterrasse, und ich sitze lange hier. Denn ich habe es heute nicht mehr eilig. :)



Arinsal
Die letzten tausend Meter mache ich in etwa einer Stunde, was für mich sehr schnell ist! Meine Ankunft wird nur durch eine grosse Lawinenschutzmauer verzögert, über die der Weg auf der Karte führt, in Wirklichkeit aber nicht. Auch wenn ich es mit etwas Mühe schaffe, darauf zu klettern, hindert mich die zehn Meter hohe senkrechte Betonwand auf der anderen Seite am Abstieg. Hm. UND WIE GEHT ES ALSO BITTE WEITER ?? Erst als ich eine ekelhaft lange Strecke zurücklaufe, sehe ich des Rätsels Lösung… ES GIBT EINEN TUNNEL !!
WARUM MUSS ICH IMMER DEN SCHWIERIGEREN WEG WÄHLEN ??



Aber jetzt kann mich nichts mehr aufhalten. Ich fliege nach Arinsal und gehe sofort in einen Laden, um alle meine unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen: zwei Päckchen Chips mit seltsamen spanischen Geschmacksrichtungen, zwei Donuts und Schokoladencookies. Ich treffe Lindy und Tekla wieder, die sich mir anschliessen, und wir gehen INS RESTAURANT ZU MITTAG ESSEN !! Ich nehme das Tages-Drei-Gänge-Menü: ein spanisches Omelett mit Salat als Vorspeise, Steak und Pommes frites als Hauptgericht und Vanillecreme mit Zimt als Dessert. ES IST MIAM UND ES IST VIEL !! :))



Girls Nachbarinnen
Ich verabschiede mich von Lindy, da sie auf der GR11 weiter geht und wir uns wahrscheinlich nicht wiedersehen werden. Ich kaufe das Essen für die nächsten Tage, verlasse das Städtchen durch den Tunnel und, nicht anders als bergauf, steige ich zur Hochebene Pla de l’Estany, um am dortigen Refugio zu schlafen. Unterwegs muss ich wieder ein Loch graben, was mir schon seltsam vorkommt, aber ich schiebe die Schuld auf das ungewöhnlich grosse Mittagessen und blockiere bewusst die Warnsignale meines Gehirns.
Ich komme kaum noch hoch, mein Körper meldet eine grosse Ansammlung von Müdigkeit und das Bedürfnis nach Ruhe. „Entschuldige, kannst du noch einen Tag durchhalten? Morgen soll es schön werden und wir können bei schönem Wetter doch nicht in einem Hotel liegen!“


Das Refugio sieht ein bisschen aus wie ein Gefängnis, mit Steinmauern, Metalltüren, Metalldrahtbetten, und das gefällt mir nicht besonders. Zwei Frauen haben drinnen an einem offenen Kamin Feuer gemacht und es raucht stark. Hier soll ich heute schlafen?? Wir werden doch alle ersticken, ich will nicht in einer Gaskammer sterben !!
Während wir lüften, stellen wir uns vor, und die Frauen kommen aus Tschechien. Sie sind die ersten TschechInnen, die ich hier treffe, und dazu sind wir fast Nachbarinnen. Wir reden lange, ich freue mich sehr darüber und verzeihe ihnen sogar, dass sie mein Schlafzimmer so verqualmt haben :))
Refugio Baiau – Refuge del Pla de l’Estany / 14.5 km / +1053 m / -1523m