Um 8:15 Uhr gehe ich los, das ist mein neuer Rekord nach einer Nacht im Zelt. Manche Leute hier STARTEN bereits um 5:30 Uhr, um die Nachmittagshitze zu vermeiden. Ich verstehe nicht, wie sie das machen, ich bin um 5:30 Uhr tiefst eingeschlafen und habe also keine andere Wahl, als die Nachmittagshitze zu ertragen.

Landschaft
Heute werde ich euch wohl mit kitschigen Bildern von den Bergen langweilen, aber es ist so sehr schön hier heute !! Ich bin umgeben von Natur, laufe auf Pfäden ohne Schlamm und ohne Scheiße und weiß nicht, was ich mir noch mehr wünschen könnte. Gleich am Morgen halte ich an und unterhalte mich mit einer Gruppe Franzosen, die schon wieder so nett sind! Ein Herr ist macht sich Sorgen, ob ich den ganzen Weg mit einem einzigen Paar Schuhen machen kann. Ich sage ihm, dass ich kein Ersatzpaar dabei habe, und er schüttelt den Kopf.


Refuge d’Arlet
Am Mittag komme ich im Refugio an und nehme hier mein erstes Omelett. Alle loben die lokalen Omeletts hier, und sie haben Recht. Jede Hütte hat ihre eigene hausgemachte Version, und ich werde sicher ein paar davon probieren. Um ein Vergleich zu haben :))


Eigentlich wollte ich hier eine Weile bleiben und schreiben, stattdessen plaudere ich mit dem Trailrunner José aus dem Baskenland und schreibe keinen einzigen Buchstaben. Dafür ist unser Gespräch schön und ich verlasse die Hütte erst nach ZWEI STUNDEN :))

Ich spreche mit meinem inneren Kind
Jeder, der sich auch nur ein bisschen für Psychologie interessiert, wird mit dem Konzept des inneren Kindes vertraut sein. Wie man mit ihm arbeitet, wie man es versöhnt, heilt, sich mit ihm verbindet und es im Erwachsenenleben willkommen heißt. Heute ist es so schön hier, dass ich denke, mein inneres Kind wird sich hier auch in Sicherheit fühlen, also halten wir uns die Hand und reden. Wir gehen zusammen und ich höre zu, was es mir alles sagen möchte.




Ich habe diese Übung noch nie gemacht, heute ist aber der richtige Tag dafür. Das innere Kind erzählt mir von dem Unrecht, den es erlebt hat, und von den Dingen, mit denen es nicht umgehen wusste.
Über Gefühle sprechen und sich dabei sicher fühlen
Es sagt, dass es zu Hause nie gelernt hat, seine Emotionen sicher und ohne Angst zu kommunizieren, weil es ihm nicht erlaubt war. Niemand interessierte sich dafür, und negative Emotionen wurden überhaupt nicht akzeptiert – Angst, Unsicherheit und Wut. Es wusste nicht, wie man mit Wut umgeht, weil es Wut zu Hause nicht fühlen durfte. Deshalb weiß es auch nicht, wie es überhaupt erkenben kann, dass es Wut fühlt. Die verbotene Wut mischt sich dann in ein unübersichtliches Durcheinander von Emotionen, zusammen mit zum Beispiel Angst, Misstrauen und Frustration, das so kompliziert ist, dass das innere Kind nicht weiß, was es damit machen soll.
Es darf zu Hause mit niemandem darüber reden, also muss es lernen, damit umzugehen – sich zu regulieren – allein, ohne andere, in Abgeschiedenheit, in Isolation. ES DISTANZIERT SICH VON SEINEN FÜRSORGERN, die ihm KEINE UNTERSTÜTZUNG GEBEN. Es fühlt sich EINSAM UND TRAURIG.

Traurigkeit und eine Art Melancholie, die es nicht versteht, werden zu einem Gefühl, das es oft empfindet. Es ist ratlos und weiss, wie es damit umgehen soll. Weil es nicht weiß, was es in der realen Welt damit machen soll, flüchtet es in andere Welten. In seine eigenen. In die Geschichten aus den Büchern, welche es liest, und aus den Bildern, die es zeichnet. Es wird zu einem traurigen Kind, das gelernt hat, anderen Leuten nicht alles zu sagen, weil sie ihm nicht zuhören und ihn zum Schweigen bringen werden. Nur in seiner eigenen Welt, in der es sich sicher fühlt, kann es sich selbst sein. Aber in der realen Welt – zu Hause – muss es immer vorsichtig sein. Zu Hause darf es sich nicht so zeigen, wie es wirklich ist.
Ich nehme mein inneres Kind fest an die Hand und sage ihm, dass es keine Angst mehr haben muss, dass es meine UNTERSTÜTZUNG hat. Es darf bei mir so sein, wie es wirklich ist, und es darf mir von all seinen Gefühlen erzählen. Ich werde es nicht verlassen und ich werde nicht aufhören, es zu lieben, und wir werden jetzt alles ZUSAMMEN lernen, IN UNSEREM GENEISAMEN ZUHAUSE.
Ich komme zu einem Felsen mit Ausblick auf alle Berge und Täler, stelle mich hin und schreie. Ich schreie mit voller Kraft die Welt und den Schmerz meines inneren Kindes an. Dann weine ich. Aber das innere Kind flüchtet nicht weg von mir und ES HÄLT FEST MEINE HAND.



Ich gehe weiter bis zum See
Eigentlich wollte ich heute bis zum Dorf Candanchú kommen, dann hätte ich aber keine zwei Stunden in der Hütte verbringen dürfen. Ich steige einen Hügel hinauf, ganz langsam, weil dort Himbeeren wachsen :)) und vor mir öffnet sich der Blick auf den See Ibon de Estanés. In diesem Moment wird mir klar, dass ich heute Nacht an einem sehr schönen Ort schlafen werde.


Ich gehe hin, mache ein Picknick, SCHWIMME NACKT IM SEE (ein grosser Wasserarm umarmt mich dabei), wasche meine Haare und ein T-Shirt. Ich baue mein Zelt auf, stelle es sorgfälltig der Windrichtung entlang und schlafe.




ca. 5 km nach Lescun – See Ibon de Estanés / 24,6 km / +1525 m / -1200 m