Ich gehe um 9:15 Uhr los. Es gibt hier nachts manchmal nur etwa null Grad und morgens aus dem Schlafsack rauszukommen, kostet mich die ganze tägliche Portion der Entschlossenheit, so dass ich danach keine mehr habe :)) Nach einer Weile bleibe ich stehen und muss mich ein wenig dehnen – mein Knie tut ein bisschen weh nach all den gestrigen Kilometern und ich hoffe, dass die einzige Medizin, die ich hier dabei habe, helfen wird – DIE BEWEGUNG!


Ich beginne mit der Passage d’Orteig, die ein bisschen knifflig sein soll. Der Schäfer, den ich gestern getroffen habe, hat mir davon erzählt und gesagt, dass es einen zehn Zentimeter breiten Pfad gibt und daneben einen zwei Kilometer hohen Absturz. Ich habe das Gefühl bekommen, er wollte es mir ausreden, hinzugehen.
«Ist es gefährlich?» frage ich ihn. «Für mich nicht, aber ich kenne die Gegend und die Passage schon seit meiner Kindheit.» «Aha, dann gehe ich mal hin und schaue nach, und wenn ich es für zu gefährlich halte, kehre ich um, okay?» «Okay», er gibt mir die Erlaubnis, hin zu gehen.
Also… der Absturz ist da, aber der Typ hat schon wieder so übertrieben !! Der Pfad ist gut einen halben Meter breit und alles ist mit Seilen abgesichert. Auch hier frage ich mich, ob der Schäfer auch einen Mann davon abhalten würde, hinzugehen, oder ob er das nur mit Frauen macht.


Col du Palas und Port du Lavedan
Ich steige weiter zum Col du Palas, 2517 m. Das Gelände hier wird typisch alpin – hochgebirgig, was darin besteht, dass ich immer wieder über große Haufen von sehr großen Steinen kraxle, oder Flanken mit kleinen Steinen überquere.



Der Col du Palas ist ziemlich einfach, aber ich gehe weiter zum Port du Lavedan, 2615m, der gemäss meiner Karte nur durch ein schüchterndes gepunktetes Linienchen erreicht wird. Das bedeutet, dass es KEINEN PFAD gibt. Zum ersten Mal seit dem Start schnalle ich meine Stöcke an den Rucksack, denn ich brauche beide Hände, um vorwärts zu kommen. Im letzten Teil entscheide ich mich für eine der beiden «Rinnen», die leichter aussieht, und klettere den Felsen zum Pass hinauf. Oben angekommen, schaue ich über die Kante und es wird mir klar, dass ich falsch bin – es gibt keinen Pass, sondern Felsen und einen Absturz gross wie eine Kuh. Ich schaue auf den Pass, der rechts von mir liegt – IN DER ANDEREN RINNE! Also klettere ich wieder hinunter und langsam gefällt es mir hier nicht mehr. Für solche Klettereien und mit diesem Rucksack bin ich nicht parat! Ich schiebe mich rüber zur zweiten Rinne, die überhaupt nicht freundlich ist, ist voller Sand, und ich brauche sowieso ein paar Kletterzüge.




Oben angekommen, schaue ich auf die andere Seite – MORDOR !! Überall nur Steine und Altschneereste. Ich benenne den Pass in Port du Mordor um – TOR ZU MORDOR.
Durch Mordor steige ich ab. Ich rutsche zweimal aus und zerkratze mir zuerst den Arm und dann das Bein. Mehrmals verlaufe ich mich, der «Weg» ist nämlich nur durch Steinmännchen «markiert» und zwar nur jede zweihundert Meter !! DER WEG IST ALSO ÜBERHAUPT NICHT MARKIERT. Es ist wie in den Bergen vor sehr langer Zeit, als die ersten Menschen ihre ersten Routen dadurch machten. Es ist ein interessantes Erlebnis, denn so etwas erlebt man in den Alpen nicht mehr – überall gibt es zumindest Steinmännchen oder gelbe oder blaue gesprühte Pünktchen.

Ich überlege mir, was ich tun würde, wenn es plötzlich Nebel gäbe, und ich habe kein gutes Gefühl dabei. Wahrscheinlich würde ich mich hinter einen Felsen setzen, mich in Schlafsack, Zelt, Jacke und Rettungsdecke einwickeln und warten, bis die Wolke wieder verschwindet. Denn eine andere unfallfreie Lösung kann ich mir nicht vorstellen, und bin froh, dass heute in Mordor die Sonne scheint.
Refuge de Larribet
Mit ähnlichen Gedanken steige ich ab bis zum Refuge de Larribet, WO ES SICHER IST! Ich frage die Dame, ob ich hier mein Handy aufladen kann, und sie fragt, ob ich hier schlafen werde. «Nein», antworte ich. Sie zögert. «Ich mache die HRP», sage ich und kann das Handy und die Powerbank aufladen, und sie schaltet noch ihr Hütten-Internet ein, um das Wetter für mich zu prüfen. Schließlich bin ich schon den dritten Tag ohne Empfang unterwegs. DANKE !! Ich bestelle einen großen Kaffee und einen Blaubeerkuchen. MIAM, der Teig ist komplett feucht von den Blaubeeren, so saftig und so gut !!



Da mich die Bergpassage etwas erschüttert hat, nehme ich ZUR BERUHIGUNG einen Himbeer-Aperitif aus den Pyrenäen und setze mich auf einen Liegestuhl in die Sonne. Die Frau von der Hütte kommt zu mir, wir reden und ich fange an, mich wieder wohl zu fühlen. Immer mehrere Gruppen von Menschen kommen, die heute Nacht hier schlafen werden. Sie sind alle gut gelaunt und lächeln mich an, bis ich auch wieder lächle.

Ich stehe auf, ich will heute noch ein bisschen laufen. Ich winke der Hüttenwirtin zu und sie verabschiedet sich laut und fröhlich von mir. ICH HABE SIE GERN :)


Nach zwei Pyrenäen-Himbeer-Aperitifs laufe ich wie geschmiert :)) Ich bleibe nur bei den Himbeeren und den Heidelbeeren stehen und überhole fröhlich alle Tageswanderer. ICH HABE MORDOR ÜBERLEBT !! :)) Ich baue das Zelt unten am Fluss auf und wasche mich im Fluss. Sehr gern möchte ich mir auch die Haare waschen, aber in dem eiskalten Wasser habe ich überhaupt keine Lust … vielleicht lieber morgen in einem See!

Lac d’Arrious – Pla de Doumblas / 9,6 km / +564 m / -1292 m