Eines habe ich euch gestern nicht erzählt: Ich habe den Pulli verloren !! Also das Hemd, das ich wirklich gern hatte !! Es war an meinen Rucksack angeschnallt, und als ich am Abend zum Biwakplatz kam, war es weg !! :((

Also stehe ich heute extra früh auf, damit ich ein Stück auf dem Trail zurückgehen und versuchen kann, es zu finden. Ich habe mir dafür insgesamt vierzig Minuten Zeit genommen – zwanzig hin und zwanzig wieder zurück :) Auch wenn ich schnell laufe und so weit wie möglich gehe, finde ich das Hemd nicht. Ich frage auch ein paar Wanderer, die ich frühmorgens treffe, ob sie es gesehen haben. Nein. PFFF !!
Das verdirbt mir wirklich die Laune und ich gehe mir selbst total auf den Sack. Aber versteht … abgesehen davon, dass ich das Hemd gern hatte, war es auch der einzige Pullover, den ich hier dabei hatte !! Wenn die angekündigte Wettervorhersage wirklich eintrifft, ERFRIERE ICH HIER BALD !!
König der Pyrenäen
Zurück in die Stadt gehe ich jetzt auf keinen Fall, also geht es weiter zum letzten aus dem Trio der höchsten Pässe der HRP. Aufgrund der oben erwähnten Wettervorhersage muss ich ihn heute überqueren. Heute ist nämlich der einzige Tag der ganzen Woche, an dem ES NICHT OHNE PAUSE REGNEN SOLL !!


Gestern Abend bin ich an der Abzweigung zum Refugio de la Rencluse vorbeigegangen, dem Ausgangspunkt für die Besteigung des Pico de Aneto, des höchsten Bergs der Pyrenäen, oder auch des Königs der Pyrenäen, den ICH SELBSTVERSTÄNDLICH AUCH BESTIEGEN HÄTTE, WENN ES NICHT DIE GANZE ZEIT NUR GEREGNET HÄTTE !! Die Entscheidung, nicht dorthin zu gehen, war ziemlich schmerzhaft. Aber was hätte ich tun sollen, wenn ich nur einen Tag ohne Regen und algegenwärtige Wolken hatte, und ich einen hohen technischen Pass überqueren musste? Aneto muss warten. Von nun an habe ich volles Verständnis für Graeme, der hierher zurückkam, um das Trauma all der Gipfel zu heilen, die er während seiner HRP nicht besteigen konnte :))
Der dritte hohe Pass
Frustriert mache ich weiter. Weil ich für mich selbst unerträglich bin, ist das Laufen schwierig. Unterwegs treffe ich ein Paar aus Barcelona, der Mann trägt nur einen Mini-Tagesrucksack und die Frau gar keinen. Ich überhole sie trotzdem verärgert !!, warte dann auf sie und steige schliesslich mit ihnen auf den Tuc de Molières, 3010 m, den Gipfel neben meinem Pass, wo ich eigentlich nicht hin muss, wir haben uns aber angefreundet, also gehen wir zusammen hin! Unterwegs haben sie mein Hemd gesehen und wenn es auf dem Rückweg noch da ist, werden sie es mir per Post in die Schweiz schicken !! :))


Für Cristina ist es ihr erster Dreitausender und ihre Freude von seiner Besteigung steckt auch mich an, und ich springe jetzt wieder fröhlich über die großen Granitblöcke bis auf den Col des Molières-Pass, 2937m, der jetzt unter mir liegt :))
Ich hatte ein bisschen Angst vor dem Pass, denn er ist technisch und der Abstieg von ihm sollte eine leichte Kletterei beinhalten. Aber als ich von ihm hinunter schaue, habe ich keine Angst mehr und fange an, mich darauf zu freuen. Keine Schieferhölle, sondern schöner fester Granit!


Das Leben kann auf verschiedene Arten gelebt werden
Ich weiß nicht, wie das aus Sicht der mathematischen Wahrscheinlichkeit möglich ist, aber im gleichen Moment sind wir zu viert auf dem schmalen felsigen Pass, und wir kamen von drei verschiedenen Seiten hin :)) Weil der Grat so schmal ist und es unmöglich ist, dort zu stehen, hängen wir alle irgendwie unbequem an einem Stück Fels und unterhalten uns dabei :)
Ich kam von oben auf den Pass, Rafal von unten auf dem Weg, welchem ich ursprünglich folgen wollte, und zwei Herren kamen von unten aus der Richtung, in die ich weiter gehen werde. So unterschiedlich, wie man einen Pass erklimmen kann, kann man auch das Leben leben.


Rafal kommt aus Polen und lebt in WALES (er hat mich mehrmals korrigiert, dass er WIRKLICH NICHT IN ENGLAND IST :)) Von den beiden Herren ist einer aus Schottland, einer aus Belgien und beide leben heute in den Pyrenäen. Einer von ihnen erzählt, dass er vor achtzehn Jahren aufgehört hat zu arbeiten und dann hierher gezogen ist.
Das inspiriert und erschreckt mich gleichzeitig, denn er ist noch nicht einmal sechzig Jahre alt und ich weiß, dass ich das in meinem Leben nicht mehr schaffen kann !! Ich denke an mein Anlageportfolio und verspreche mir, sobald ich zurück bin, ihm etwas Liebe und etwas mehr GELD zu geben :))
Ich überlege mir, auf wie viele verschiedene Arten ein Leben gelebt werden kann. VIELE !! Warum habe ich also oft das Gefühl, dass es nur einen Weg gibt und ich auf diesem Weg bleiben muss, auch wenn er mir vielleicht schon lange Zeit nicht mehr gefällt? Warum denke ich, dass ich es aushalten muss ??
WEIL ICH MICH SELBST IGNORIERE UND MIR NICHT ZUHÖRE !!
Das Leben aushalten
Auf dem Trail gibt es IMMER mehrere Lösungen für jedes Problem. Wenn mir das Essen ausgeht, will ich es sicher nicht AUSHALTEN, bis ich vor Hunger in Ohnmacht und Schafkacke falle! ICH MACHE ETWAS DAMIT !! Etwas AUSZUHALTEN bedeutet nicht, erfolgreich zu sein, sondern sich selbst zu blockieren, sich selbst im Weg zu stehen und SICH SELBST KOMPLETT ZU SABOTIEREN !!

Mit Gedanken an LÖSUNGEN GEGEN EINSAMKEIT UND TRAURIGKEIT, an alternative Leben und die Möglichkeit der Veränderung, klettere ich über die Granitfelsen vom Pass herunter. Den Abschnitt, den ich gefürchtet habe, geniesse ich jetzt sehr. Er hat nur ein Problem: er ist zu kurz !! :))
Ich überlege, ob ich versuche, mein tägliches Leben eher AUSZUHALTEN, oder es ZU LEBEN. Ich bin mir der Antwort nicht sicher, was mich ärgert, beunruhigt und erschreckt. Es ist die Wut, die Unsicherheit und die Angst: DIE EMOTIONALE HEILIGE TRINITÄT, DIE AUS DER HÖLLE AUSGEBROCHEN IST.
Unser Leben ist zu lang und zu kurz, um es nur auszuhalten. Lang, weil wir für lange Zeit unglücklich sein werden, und kurz, weil wir alles verpassen werden.
Abstieg ins Tal
Rafal – Raf – macht auch die HRP, und zwar in der gleichen Richtung wie ich. Vom Pass sind wir separat losgelaufen, aber jetzt treffen wir uns wieder und gehen den Rest des Tages gemeinsam, denn wir haben genau das gleiche Tempo. Vom Pass aus geht es in einem langen, langsamen Abstieg hinunter ins Tal. Wir unterhalten uns die ganze Zeit und Raf ist mir sehr sympathisch. Polen und Tschechien sind sich nicht nur geografisch nahe, sondern auch in ihrem Sinn für Humor. Ich geniesse all die ironischen Witze und subtil sarkastischen Bemerkungen, wegen derer keiner von uns BELEIDIGT IST !!


Wir biwakieren zusammen auf einer Wiese am Fluss. Abends fängt es an zu regnen, aber dann ist schon jeder in seinem Haus und in einem Augenblick SCHLÄFT RAF TIEF UND LAUT EIN, dass ich den Regen dann kaum noch höre :))
Plan d’Aigualluts – Val de Conangles / 16,4 km / +1132 m / -1422 m